Französische Literatur

Die römischen Ruinen von Tipasa in Algerien.

„Auf dieser Hochzeit der Ruinen und des Frühlings sind die Ruinen wieder Steine geworden, haben die ihnen vom Menschen aufgezwungene Glätte verloren und sind wieder eingegangen in die Natur.“

Hochzeit des Licht

Das Mittelmer

Am Anfang von Camus‘ Leben stehen das Licht und die Armut. Die Armut ist die Geschichte und das, was wir aus ihr machen können. Das Licht ist die Natur, die einfachen Freuden, die Weltbejahung. Die Schönheit der Welt darf nicht über das Unglück der Geschichte hinwegtäuschen und umgekehrt.

« Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist. »

In der Natur wie in der Geschichte müssen die Menschen lernen, an ihrem Platz zu bleiben. Sie dürfen sich nicht für Götter halten, müssen die Endlichkeit des Daseins akzeptieren und müssen sich hüten, eine Sache so sehr zu heiligen, dass sie alle Mittel einsetzen, um ihr zum Sieg zu verhelfen. Diese Vorliebe für das Gleichgewicht zieht Camus aus dem, was er als Mittelmeerraum bezeichnet: sein Leben als armes Kind in Algier, Griechenland und seine Mythologie, die klassische Kunst, ein gewisser Sinn für Maß, aber auch bestimmte Farben, ein Licht, das die Natur und das Leben der Menschen ausstrahlt. Nach seiner Ansicht ist Europa im 20. Jahrhundert deshalb in einen Zerstörungswahn verfallen, weil es seinen mediterranen Teil vergessen hat.

Das Mittelmeer ist für Camus also viel mehr als nur ein Land und ein Klima. Es ist die lebendige Quelle seines Seins und seines Werkes, wie zwei Bücher belegen, die sein Leben als Schriftsteller einrahmen: Sein erstes Buch, L’Envers et l’Endroit, und sein letztes Buch, Le Premier homme, an dem er arbeitete, als er starb.

Das Absurde

Das Absurde, so Camus, „entsteht aus der Konfrontation zwischen dem menschlichen Ruf und dem unvernünftigen Schweigen der Welt“. Der Mensch fragt nach Sinn, doch das Universum gibt ihm keinen. Der Tod ist eine Frage ohne Antwort. Er macht unser Leben zugleich lächerlich und endgültig, mit einem Wort: absurd.

Das Absurde kann auch aus dem Blick auf unser Leben entstehen. In Filmen oder Romanen scheinen die Helden einem Schicksal zu folgen; ob gut oder schlecht, ihr Leben scheint kohärent und erfüllt. Ebenso verleiten uns unsere sozialen Beziehungen, unsere Familie und unsere Arbeit dazu, uns Gefühle aus den Umständen zu leihen, so zu tun, als ob alles einen Sinn hätte, Gründe zu finden, um alles zu erklären, kurz gesagt, einen Roman über unser schlecht arrangiertes Leben zu schreiben. Und die meiste Zeit glauben wir selbst daran. Trotzdem kommt es, wie Camus in Der Mythos des Sisyphos sagt, „manchmal vor, dass die Kulissen zusammenbrechen“. Unser Leben erscheint uns dann so, wie es ist: voller Zufälle, Umstände und Lücken, mit zu langen Leerläufen. Es hat nicht die logische Abfolge eines erzählten Lebens: Die Ereignisse reihen sich grundlos aneinander.

Was würde aus einem Mann werden, der dieser Wahrheit treu bleibt? Der sich weigert zu lügen oder mehr zu sagen, als er fühlt? Das ist die Geschichte von Meursault in „Der Fremde“: Ein Mann, der das Spiel nicht mitspielt, bringt bald die ganze Gesellschaft gegen sich auf.

Camus spricht: eine unvollendete Welt

Gespräch mit Jean Mogin, 1955. Camus liest einen Auszug aus Der Mensch in der Revolte

Rückkehr nach Tipasa

„… Ich entdeckte in Tipasa, dass man eine Frische, eine Quelle der Freude in sich bewahren muss, den Tag lieben, der der Ungerechtigkeit entgeht, und mit diesem eroberten Licht in den Kampf zurückkehren muss. Ich fand hier die alte Schönheit wieder, einen jungen Himmel, und ich maß mein Glück und verstand endlich, dass in den schlimmsten Jahren unseres Wahnsinns die Erinnerung an diesen Himmel mich nie verlassen hatte. Er war es, der mich letztendlich davon abgehalten hatte, zu verzweifeln. Ich hatte immer gewusst, dass die Ruinen von Tipasa jünger waren als unsere Baustellen oder unser Schutt.“

 

Sommer, „Rückkehr nach Tipasa“.

Matisse, La danse (1909-1910), Hermitage Museum, Moskau.

Die Überwindung des Nihilismus

Das Gefühl der Absurdität der Dinge kann zum Nihilismus führen. In einer Welt ohne oberstes Gesetz sind unsere Verantwortung und unsere Macht beängstigend. „Wenn es keinen Gott gibt“, lässt Dostojewski eine seiner Figuren sagen, „dann ist alles erlaubt!“.

Alles ist erlaubt. Nichts ist logischer als das: Wenn das Leben absurd ist, wenn es nach dem Tod keine Sanktionen oder Belohnungen zu erwarten gibt, was sollte mich dann davon abhalten, zu tun, was ich will? Und andererseits: Woran soll ich mein Verhalten ausrichten? Wie soll ich handeln? Was für eine Qual!

Das Problem nimmt auf kollektiver Ebene eine höhere Dimension an, und Camus versucht in Der Mensch in der Revolte eine Antwort darauf zu finden. Das 20. Jahrhundert kannte einige große Revolten. Im Jahr 1917 lehnte sich das russische Volk gegen seine miserablen Lebensumstände auf. Wer würde die Legitimität dieser Entscheidung in Frage stellen? Es ist richtig, sich zu revoltieren. Doch Camus zufolge verwandelte sich diese Revolte bald in eine nihilistische Revolution: Jedes Mittel war nun recht, um eine gerechte und glückliche Gesellschaft herbeizuführen. Gott war verschwunden und so machte man die Geschichte und das zukünftige Glück der Menschen zu einer heiligen Sache, der man alles opfern konnte, auch die Unschuld einiger weniger. Verurteilungen ohne Gerichtsverfahren, Gulags, kulturelle Umerziehung: Alle Mittel waren legitim, da die Sache übergeordnet war. Camus hat das nie akzeptiert. Seither hat sich die russische kommunistische Utopie von der Küste zurückgezogen und ihre Massengräber am Ufer sichtbar gemacht. Heute scheint uns klar, dass Camus Recht hatte, der politischen Aktion Grenzen zu setzte. Zu der damaligen Zeit erhielt seine Aufforderung zu einer maßvollen Revolte jedoch viele ironische Kommentare von Seiten der Revolutionären.

Die Liebe

Das 20. Jahrhundert brachte eine originelle Art des Menschenabschlachtung hervor, die darin bestand, aus ihnen Nummern zu machen und die Gewalt in der Bürokratie zu ertränken. Sehr schafrsinnig erahnte Camus darin das große Verbrechen des Zweiten Weltkriegs: ein Verbrechen aus Mangel an Vorstellungskraft. Einen Befehl weitergeben und sich nicht die Mühe machen, sich die schreckliche Angst vorzustellen, die er für den Verurteilten am Ende der Kette bedeutet. Handelt es sich hierbei nicht im Grunde um einen Mangel an Liebe? Um die Unfähigkeit, sich als Brüder zu fühlen? Ist das nicht letztlich eine der Wurzeln des Bösen?

Nach dem Zyklus des Absurden (Der Mythos des Sisyphos, Caligula, Das Missverständnis) und dem Zyklus der Revolte (Der Mensch in der Revolte, Die Pest) begann Camus den „Zyklus der Liebe“. Sein Tod verhinderte, dass er ihn vollenden konnte.

Doch das Thema der Liebe zieht sich durch sein gesamtes Werk. Es ist ein fester Bestandteil davon. Camus liebt das Leben und er liebt die Menschen so, wie sie sind. Nun kann man eine Revolution machen, ohne die Menschen zu lieben, oder vielmehr, indem man sie für das liebt, was sie eines Tages in einer von Ungerechtigkeit befreiten Gesellschaft sein werden (siehe sein Stück Die Gerechten). Deshalb haben sich so viele totalitäre Regime für berechtigt gehalten, den Menschen gegen ihren Willen Gutes zu tun – indem sie sie, wenn nötig, zerbrechen. Für Camus sind es die lebenden Menschen, die man lieben muss, die Menschen der Gegenwart.

Fokus

Camus, der Journalist

In Algerien: Alger Républicain

Das 1938 gegründete und von Pascal Pia geleitete Zeitung Alger Républicain war eine fortschrittliche Zeitung, die keine keine Kompromisse mit der damals herrschenden Zensur machte. Albert Camus schrieb darin Gerichtskolumnen, Literaturkritiken, Berichte über politische Versammlungen und viele mehr.

Seine grössten Qualitäten als Schriftsteller stellte Albert Camus jedoch mit einer großen Reportage über die Kabylei am Vorabend des Zweiten Weltkriegs unter Beweis. Er war erst 25 Jahre alt.

„Ich wusste auch, dass es süß gewesen wäre, sich diesem so überraschenden und großartigen Abend hinzugeben, dass aber dieses Elend, dessen Feuer vor uns glühten, wie ein Verbot über die Schönheit der Welt legte.“

„Das Elend der Kabylei“

In dieser Reportage über eine abgelegene und elende Region Algeriens sammelt Camus Meinungen, ermittelt Zahlen, macht konkrete politische Vorschläge und verleiht dem Ganzen gleichzeitig die Kraft eines Zeugnisses. Die einzigartige Stimme des Schriftstellers erhebt sich im Dienste einer Sache, die über ihn hinausgeht.

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Die Reportage :

Chroniques Algériennes (1939-1958), Gallimard, 2002.

In Frankreich: die "Combat"-Periode

Camus trat als Redakteur in die zunächst wichtigste Zeitung der Résistance ein und wurde bald Chefredakteur und anschließend Leitartikler.

Zu dieser Zeit, aber auch in der Vor- und Nachkriegszeit, zeichnete sich die französische Presse durch eine Vorliebe für Polemik aus, die sehr oft bis zur Beschimpfung reichte. Camus hingegen mochte keine Beleidigungen, keine bösen Absichten und keine intellektuelle Unredlichkeit. Bald nahm er die Gestalt einer moralischen Autorität in einem Land an, dem es an solchen fehlte.

Er war der Ansicht, dass Journalismus auf einer bestimmten, im Grunde recht einfachen Anforderung beruht: „dass Hintergrundberichte Substanz haben und dass falsche oder zweifelhafte Nachrichten nicht als wahre Nachrichten präsentiert werden.“

„Die Aufgabe eines jeden von uns ist es, das, was er zu sagen beabsichtigt, gut zu durchdenken, nach und nach den Geist der Zeitung zu formen, der er angehört, aufmerksam zu schreiben und niemals die immense Notwendigkeit aus den Augen zu verlieren, in der wir stehen, einem Land seine tiefe Stimme wiederzugeben. Wenn wir dafür sorgen, dass diese Stimme die der Energie statt des Hasses, der stolzen Objektivität statt der Rhetorik, der Menschlichkeit statt der Mittelmäßigkeit bleibt, dann ist vieles gerettet und wir haben uns nicht verfehlt“.

 

Combat, 31. August 1944

Die Informationsquellen prüfen, seine Worte abwägen, keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen – Camus gibt in seinen Artikeln ein Beispiel für das, was er als kritischen Journalismus bezeichnete. Diese Anforderungen könnten auch heute noch als Richtlinien in einem manchmal verpönten Beruf dienen.

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Zu Camus‘ Schriften in Combat :

Actuelles, Gallimard, 1997.

Turbulente Zeiten

Polemik und Bruch mit Sartre

1. Veröffentlichung seines Essays Der Mensch in der Revolte.

In diesem 1951 erschienenen Essay versucht Camus zu zeigen, dass wenn auch die Revolte gerecht ist, sie niemals nihilistischen Versuchungen nachgeben darf.

2. Kritische Rezension in Les Temps modernes

Sartre war seit dem Krieg eng mit Camus befreundet. Als Leiter der Zeitschrift Les Temps modernes war er der einflussreichste und meistgehörte Intellektuelle der Linken. Der Mensch in der Revolte gefiel ihm nicht. Sechs Monate lang zögerte er, eine Rezension des Buches zu veröffentlichen. Schließlich übernimmt dies im Mai 1952 ein junger Mitarbeiter der Zeitschrift, Francis Jeanson. Die Rezension ist streng, aber sehr argumentativ (20 Seiten). Jeanson lobt den literarischen Erfolg, verurteilt jedoch die Inkonsistenz von Camus‘ Denken.

„Ein vager Humanismus, nur mit dem nötigen Maß an Anarchismus versehen, um [seinen] allgemeinen Protest gegen alles, was getan wird, auszudrücken, im Namen all dessen, was [er] für besser hält“.

Francis Jeanson, „Albert Camus, ou l’âme révoltée“ in Les Temps modernes, mai 1952.

3. Camus schreibt einen empörten Brief an Sartre

„Herr Direktor…“, beginnt Camus sein Schreiben und greift Sartre direkt an, weil dieser „weder Großzügigkeit noch Loyalität [ihm] gegenüber“ gezeigt habe. Der Schriftsteller ist wütend über den kritischen Bericht, der seiner Meinung nach böswillig ist und die wahren Fragen, die sich aus den Konzentrationslagern in der UdSSR ergeben, ausblendet.

Sartre und Beauvoir, die Scharfschützen der revolutionären Linken.
4. Sartres vernichtende Antwort

Sartre greift ebenfalls zur Feder und beginnt seine Antwort mit den Worten: „Unsere Freundschaft war nicht einfach, aber ich werde sie vermissen.“ Es kommt zim endgültigen Bruch. Sartre verteidigt seinen Mitarbeiter und seine Zeitschrift, indem er einem „vollkommen unerträglich“ gewordenen Camus seinen übertriebenen Stolz und seine „philosophische Inkompetenz“ vorwirft.

„Aber sagen Sie mir, Camus, durch welches Geheimnis kann man Ihre Werke nicht diskutieren, ohne der Menschheit die Gründe zum Leben zu nehmen? Durch welches Wunder verwandeln sich die Einwände, die man gegen Sie vorbringt, sogleich in ein Sakrileg?“

Jean-Paul Sartre, „Réponse à Albert Camus“ (Antwort an Albert Camus), Les Temps modernes, August 1952.

Nachdem er von der Linken abgelehnt, von der Rechten ignoriert und von der Polemik verletzt wurde, zog sich Camus von den Pariser Intellekutellen-Kreisen zurück und durchlebte eine dunkle Zeit, aus der insbesondere Der Fall (1956) hervorging.

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QUELLEN

Die kritische Rezension von Francis Jeanson :

„Albert Camus, ou l’âme révoltée“ in Les Temps modernes, mai 1952

Der Brief von Albert Camus :

Actuelles II, Gallimard (blanche), 1953

Die Antwort von Jean-Paul Sartre :

Situations IV, Gallimard (blanche), 2015

Camus, der Moralist

Eine Schriftstellerfamilie

Moralist zu sein bedeutet nicht, Moral zu predigen, sondern sich für die Sitten zu interessieren: die Menschen zu durchleuchten und zu versuchen, den Sinn ihres Verhaltens zu entschlüsseln. Was sind unsere tiefsten Beweggründe hinter dem äußeren Schein? Was können wir vom Leben erwarten?

Auf diese Fragen antworten Blaise Pascal, Jean de La Bruyère, François de La Rochefoucauld und im 18. Jahrhundert sogar Voltaire auf ihre jeweils eigene Art und Weise.

Der Fall und La Rochefoucauld

Die Nähe zwischen Albert Camus und dieser literarischen Strömung ist auffallend. La Chute (Der Fall) stellt eine düstere Vision der Existenz dar, die den Stolz zum absoluten Herrscher unseres Lebens macht. La Chute klingt wie eine Erzählung aus den Gedanken von Pascal oder den Maximen von La Rochefoucauld.

In Der Fremde hingegen geht es um einen etwas arglosen, aber absolut aufrichtigen Helden, der von den Ereignissen hin und her geworfen wird, bis er schließlich ein tragisches Ende findet. Ist das nicht genau die Absicht von Voltaires berühmtester philosophischer Erzählung, Candide?

Referenztexte :

Im Grunde besteht die zentrale Frage in Camus‘ Werk darin, zu ergründen, warum das Leben lebenswert ist, und diesen Gründen treu zu bleiben.

Schon Jean de la Bruyère fragte sich, ob man das gesellschaftliche Spiel mitspielen oder dem treu bleiben sollte, was man im Leben wirklich für wichtig hält. Auf die Frage, womit er seine Zeit verbringe, antwortet er zögerlich:

„Wenn ich Ihnen nun erwiderte, dass ich Sie mir damit vertreibe, die Augen zu öffnen und zu sehen, die Ohren aufzutun und zu hören, gesund zu sein und Ruhe und Freiheit zu geniessen, so würde das so viel als keine Antwort sein. Die wahren, die großen, die einzigen Lebensgüter rechnet man für nichts, man hat kein Gefühl dafür. – Spielen Sie? Maskieren Sie sich? muss man darauf antworten.“

 

Jean de La Bruyère, Die Charaktere

Albert Camus und Michel Gallimard machen Urlaub in Griechenland. Michel Gallimard fuhr das Auto am Tag des Unfalls, bei dem beide am 4. Januar 1960 ums Leben kamen.